Liebe Freundinnen der gehobenen Frühstücksliteratur, Freunde der sonntäglichen Realitätsflucht,
heute wünsche ich viel Vergnügen bei einem kleinen Ausflug über einen sonnenbefluteten menschlichen Abgrund (meinem eigenen) – ich wünsche einen herrlichen Oktoberbeginn. Viel Spaß beim Lesen!
Berlin-Grunewald, im Wiener Caffeehaus. Neben mir sitzen zwei gebräunte Herren, etwa 60-jährig. Einem steht in dunkelblauer Stickung „Boss“ auf dem hellblauen Polohemd geschrieben. Das drückt nicht nur eine problematische modische Haltung aus, sondern ist vermutlich auch die textile Niederschrift des eigenen Statusempfindens.
Die Dame im Kreis der zwei Herren ist im selben Alter, Konfektionsgröße 34, glänzendes Prachthaar, Schmuck. Man spricht eine kleine Spur zu laut, mit starkem bayrischen Akzent. Ich phantasiere den Herren eine Golfclubmitgliedschaft im Gegenwert einer Münchner Immobilie zu. Der Dame unterstelle ich, als dragonisches Familienoberhaupt in einer Villa am Starnberger See zu herrschen. Vor 25 Jahren hat sie noch mit Leni Riefenstahl beim Nachmittagstee Richard Strauss’ Alpensymphonie gehört.
Oktoberfest-Vibes im Grunewald
Ihre Söhne hat sie in juristische Berufe hineinmanipuliert. Sie hat Schuldgefühle, weil ihre einzige Tochter nur Neurobiologin am Max-Planck-Institut geworden ist, das schwarze Schaf. Einer der Polohemdmünchner sitzt seitlich am Tisch und hat die Beine übereinander geschlagen. Sein nackter Fuß wippt in einem Wildlederslipper viel zu nah in meinem Augenwinkel rum. Diese Territorialverletzung regt mich auf. Für einen Augenblick kann ich Putin verstehen. Und Friedrich Merz: Diese Golfplatzgalane haben sich doch bei uns die Zähne machen lassen!
Fremder Klang, breit und lang
Die schamlos ausakzentuierten Fremdklänge in Berlin-Grunewald passen hier nicht hin. Ich wünsche mir Zurücknahme von den Revier-Rüpeln, die ihre bajuvarische Präsenz so unangemessen demonstrieren, über die Grenzen ihres ihnen zugedachten Tisches hinaus. Mir liegt der Satz auf der Zunge: „Ihren Dialekt hören wir nicht so gerne, bitte sprechen Sie hochdeutsch, wenn Sie sich schon hier unterhalten müssen. Gibt es denn hier nirgendwo einen Biergarten für Sie?“
Humanistische Krise am Kaffeetisch
Ergänzend will ich unterstreichen, dass ich jederzeit für Toleranz und Nächstenliebe unterschreiben würde. Hier aber frage ich mich, erschüttert von meiner offenbar aufgeweichten humanen Gesinnung: was wollen die hier? Ich lese jetzt extra nicht die Süddeutsche, sondern die Berliner Zeitung. Ein Sturm des Unbehagens wütet in mir. Um ihm ein Gegengewicht zu schenken, zeige ich das gelassene Antlitz des lebensfrohen Bonvivants, über allem schwebend. Dann kompensiere ich die innere Attacke auf meine Zivilisiertheit durch ein übertriebenes Trinkgeld, als Ablasszahlung für die abgestürzten Philanthropiewerte. An den beiden Polohemdmodels und der attraktiven Seniorin schlendere ich mit ausgestellter Langsamkeit vorbei. „Langsam“ ist das neue „reich“. Zeit ist meine Währung, so soll es wirken.
Zuviel Lebenslicht auf viel zu knappem Raum
Vielleicht kommt die Finsternis meines Fremdgefühls von dem viel zu vielen Lebenslicht, das viel zu knappen Raum bestrahlt. Wir Menschen werden immer mehr, und alle wollen nach Berlin. Wer ein sensibles Territorialempfinden hat, bekommt in Berlin Probleme.
Ich hab gerade welche. Wie gut, dass ich einen Beruf habe, der mir immer wieder Stunden schenkt, in denen ich die Menschen von ihrer besten Seite kennenlernen darf. Beim Konzert, wenn ganz unbekannte Leute mich anlächeln, funkelnden Auges applaudieren, nach der Show schöne Worte finden und mir sogar Geld geben. Dann bin ich glücklich, voller Freude. Dann kann ich nicht anders, als alle Menschen zu lieben – so wie kürzlich bei einem Salonkonzert im Schloss Schönebeck.
Hoffentlich kommen die drei mutmaßlichen Millionäre mal in ein Konzert von mir, dann kann mein Gewissen Frieden finden.
Jetzt mal ganz im Ernst:
Danke fürs Mitmachen!
So ein Frühstücksvormittag, bei dem ich im Caffeehaus in Grunewald wohlhabende Süddeutsche studiere, ist eher kostspielig. Die Gastronomen im Grünen langen hin. Taxi hin, Taxi zurück, da kommt auch was zusammen. Die Belege landen alle bei meinem Steuerberater.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie Ihren absurd teuren Lebenswandel als Betriebsausgaben geltend machen können!”, lacht er mich aus. „Doch!” fauche ich ihn an, „schließlich verdiene ich mit Sonntagskind richtig Asche!”
Jetzt frage ich dich, liebe Leserin: Willst du, dass ich vor meinem Steuerberater als dreister Lügner dastehe? Gib deinem Herzen einen Ruck und spendiere für diese Sonntagskind-Kolumne ein Trinkgeld auf Starnberger-See-Niveau:
Übrigens: die letzte Happy Donnerstag-Kolumne spielt im 15. Stock des Hotels Waldorf-Astoria. Wer Sonntagskind abonniert hat, aber Happy Donnerstag nicht bekommt, kann das in den Einstellungen ändern: www.sonntagskind.blog/account
Im letzten Sonntagskind Neulich in der Edelboutique bat ich um Fotos von modischen Imperativen. Ulrich schickt mir dieses Bild:
Danke fürs Lesen von Sonntagskind – ich freue mich, dass meine wöchentliche Frühstücksliteratur bei dir ankommt. Herzlicher Gruß,
Dein
Wieder einmal wurde ich/ wir( lese deine Texte inzwischen meinem Mann vor,dem sie auch Vergnügen bereiten) von dir mit einer vergnüglichlichen Geschichte beschenkt. Danke dafür. Wie kann man denn sein " Trinkgeld" loswerden,wenn man kein PayPal Konto hat? Liebste Grüße aus Bremen
Zeihnse den Einwurf, junger Mann: Was ist denn das für eine Umfrage mittendrin, und hat der Werte Autor sie schelmisch eingefügt oder kommt sie direkt vom völkischen Beobachter via Substack? Es fällt auf, dass es nur die Merkelantwort und die AfD-Antwort auszuwählen gibt. Was übrigens insofern dieselbe ist, als die Migrationspolitik aus Angst vor der AfD immer weiter nach rechts rückt.
Und die richtige Antwort gibt’s nicht: Deutschland schiebt ab und schafft alle paar Jahre etwas mehr vom Asylrecht ab. Frontex prügelt Leute zurück über die Grenze und versenkt andere im Mittelmeer. Rettungsschiffe werden illegalisiert. „Das wird nicht gutgehen“ - für alle die nicht dazugehören.