Dr. Sara, meine Zahnärztin, rief mich an und bestellte mich zur Nachuntersuchung der Implantate, die sie mir vor einem halben Jahr in den Unterkiefer gepflanzt hat. Ich liege nun auf Dr. Saras Behandlungsstuhl, mit einem etwas lässiger geschnittenen Anzug als sonst. Der großzügige Einreiher soll darüber hinwegtäuschen, dass ich infolge der Dezemberzügellosigkeit noch etwas out of shape bin.
Ich kann mich nämlich gut erinnern, wie ungut es sich anfühlt, von meiner attraktiven und stilbewussten Zahnärztin in der körperlichen Erscheinung gerügt zu werden. Sie macht das auf sehr subtile, charmante Art – aber die Kritik an der Disziplinlosigkeit sitzt. (Siehe diese Kolumne1)
Heute drückt sie mir überraschend einen Spiegel in die Hand und fordert mich auf, meinen Oberkiefer anzuschauen. „Lächelst Du gern?“ fragt sie. „Ich habe den Eindruck, dass Du Deine Zähne versteckst, weil sie schief sind.“ Leider hat sie wie immer recht: ich finde mich zwar im Grunde sehr wohlgeraten, aber vorne in der Mitte sind zwei nach hinten abdriftende Hasenzähne, die länger sind als die anderen. Rechts und links davon die beiden schräggewachsenen Beißerchen, die sich so ungelenk in meiner Zahnleiste herumdrücken, als wären sie dort unerwünscht. So richtig anfreunden konnte ich mich mit dieser sehr individuellen Erscheinung von Gebiss noch nie.
Die hervorragend gekleidete iranische Schönheit holt einen Hochglanzkatalog aus ihrer Schublade und klärt mich über Veneers auf. Das sind Keramikverblendungen, mit denen sie meinen chaotischen Kiefer auf Linie bringen könnte. Sie lächelt mich mit dem perfekten internationalen Smile der Erfolgreichen und Schönen an: „Ich habe die auch, schau.“ Ich rechne ihr hoch an, dass sie mich überhaupt nicht manipuliert, sondern mir selbst die Entscheidung überlässt, ob ich die Verblendungen sofort vornehmen lasse oder wir erst nach Ostern damit beginnen.
Schöne Zähne schaden nicht. Auch auf dem Fremdgehmarkt ist es von Vorteil, attraktiv wirken zu können. „Fremdgehen“ sollte das Thema dieser Kolumne sein, ich hatte es reißerisch auf Facebook angekündigt, um neue Abonnenten zu ködern. Dann schrieb ich den Text. Der ist aber ein so skandalöser Seelenstriptease geworden, dass ich ihn unmöglich jetzt schon, in noch so jungen Jahren meines Lebens veröffentlichen kann.
Ich habe einmal ein Lied geschrieben, in dem eine Frau das Zusammensein mit ihrem Partner als Zumutung erlebt2. Darin gibt sich der Mann nachlässiger, als ich je auf dem Zahnarztstuhl von Dr. Sara rumlungern könnte. Er interessiert sich nicht mehr für sie und hängt nur noch dumm vor der Glotze, anstatt die Wohlgestalt seiner Freundin zu preisen. Irgendwann wird ihr klar, dass sie ohne Leidenschaft nicht leben will. Dann schlüpft sie ins kleine Schwarze und macht sich auf die Jagd. Im Chorus des Liedes heißt es dann: „Heute Nacht wird sie fremdgehen, doch sich selbst bleibt sie treu.“
Als guter Freund hätte ich ihr wahrscheinlich dazu geraten, den tumben Ignoranten ganz hinter sich zu lassen – aber wie hätte sie dann fremdgehen sollen? Fremdgehen ist ein Privileg: wer keine Beziehung hat, kann auch nicht fremdgehen, so ist das im Kapitalismus.
Eine Studie der mit der Erheblichkeit ihrer Mitglieder werbenden Edeltinderplattform „Elite Partner“ kommt zu diesem Ergebnis: Mehr als ein Drittel aller Leute haben schon mal an einem Blümchen am Wegesrand ihres monogam definierten Pfades geschnuppert. Die Frauen sind dabei noch ein bisschen anfälliger für den Duft fremder Blüten. Ich habe allerdings meinen Teil dazu beigetragen, dass wir Männer in dieser Statistik auch sehr präsent sind. Ich war eine Zeit lang Experte für Doppel-, Tripel- und Quadrupelbeziehungen. Sollte ich eines Tages in Geldnöten sein, kann ich endlich den Sachbuchbestseller „Die perfekte Affäre – professionell betrügen“ schreiben. Oder mit dem Ratgeberpodcast „Untreu mit Stil – zwischen Anstand und Exzess” ein Vermögen machen. Mein Lied „Fremdgehen” ist nämlich kein Hit geworden. Dass ich damit allerdings nicht zum ESC eingeladen wurde, kann nur an den schiefen Zähnen liegen.
Erfundene Wörter in dieser Sonntagskind-Kolumne: Dezemberzügellosigkeit, Fremdgehmarkt, Edeltinderplattform, Quadrupelbeziehung.
Liebe Leserin, lieber Leser. Wie hältst du es mit dem Fremdgehen? Ein schlechtes Gewissen kann wie eine enorme Last auf der Seele liegen. Früher hat sich die Kirche um Sünderinnen und Missetäter gekümmert: mit Ablasszahlungen konnte man dem eigenen verwundeten Empfinden den Schmerz nehmen. Aber wer lindert heute das Leid hinter der Fassade des Anstands? Als Sonntagskind fühle ich mich verantwortlich – gegen eine freiwillige Gebühr stelle ich den Raum zwischen den Zeilen der nächsten Kolumne als Projektionsfläche für die Reinheit deines Gewissens zur Verfügung!
Kennst du untreue Gattinnen, notorische Fremdgänger? Verführbare Seitenspringer, affärenaffine Romanzenrowdies? Mach’ ihnen eine Freude, schicke ihnen dieses Sonntagskind:
Willst du dein Gewissen erleichtern? JETZT ist der richtige Zeitpunkt!
In dieser Kolumne trar meine Zahnärztin das erste Mal in Erscheinung:
Hier mein Lied “Fremdgehen”, live im Fernsehen bei Jörg Thadeusz:
Der gute Katholik geht zur Beichte…