Der Kurzfilm aus Kampen
S-Bahnfahren in Berlin ist gelebte Demokratie. Nirgendwo sonst erlebt man den gigantischen Tonumfang der Hauptstadtgesellschaft in einer Kakophonie der Extreme: Der operierte Bodymodder1 mit implantierten Hörnern und gespaltener Zunge hält sich an derselben Stange fest wie die Immobilienmaklerin im Jil Sander-Kostüm. Flankiert vom schweißdunstigen Fahrradhelmbären, dem vornübergebeugt schmatzenden Teenie mit Tropf-Döner und der schimpfenden Borderlinerin. Auch der Linksextremist, der seine Nächstenliebe durch einen Molotowcocktail ersetzt hat, fährt mit. Mit statistischer Sicherheit auch die von den Staatsmedien enttäuschte Reichsbürgerin mit Remigrationsphantasien.
Entmenschte Cashmerepullischnösel und dummtrunkene Prä-Cabriogattinnen mit Ray-Ban im Haar wie im aktuellen Kurzfilm aus Kampen2 trifft man aber selten auf den Gleisen von Deutschlands größter Stadt.
Das Sylt-Debakel schockt uns alle. Wohlstand schützt nicht vor Pöbelbetragen! Wurden im letzten Sonntagskind3 prophetische Kräfte frei?
„Der Begriff Unterschicht muss zukünftig am seelischen Niveau, am Anstandslevel ausgerichtet werden, ganz unabhängig vom Einkommen.”
Internationaler Ausländerhass
Ich hätte nicht geahnt, dass aperolverblödete Vollhonks ein paar Tage später den Videobeweis erbringen würden, in dem sie zu einem von Italienern produzierten französischssprachigen Eurotrashdancetrack das Lied der Herrenrasse singen.
Ich muss an meinen Freund Edward denken, er hat in Oxford studiert. Spartenübergreifend wurden dort auch Umgangsformen unterrichtet. Das führt dazu, dass uns Edward und andere Oxford-Alumni beim Essen mit spontanen Tischreden überraschen können. Auch sonst sind sie durchwoben von Noblesse! Ich bin sicher, eine Schule wie diese könnte Kampenkinder vor der Verwandlung in kulturferne Kretins bewahren. Irgendwann waren diese verwahrlosten Arschgeigen bestimmt reizende junge Leute.
Aber es ist einfach, über Inselgesindel die Moralnase zu rümpfen, es gibt genügend Übelgeruch vor der eigenen Tür. Zurück aufs Gleis:
Im Waggon der Ignoranz
Manchmal kommen ältere Leute in den Waggon. Sie müssen stehen, weil sie niemand bemerkt. Man ist schließlich beschäftigt, mit Tinder, Tiktok oder Telephonieren mit Lautsprecher. Für mich als People-Pleaser-Einzelkind ist dieser Kollektivstatus so anstrengend wie die Selbsterkenntnis für den Vergnügungssoldaten der Sylter Sauf-SS. Ich verzichte dann auf einen Sitzplatz, nur wegen Harmonieherstellungszwang und Anstandssucht. Mein Gerechtigkeitstick nötigt mir ab, meine angeborene Schüchternheit zu überwinden. Ich hebe meine Stimme in Klang und Lautstärke so, dass sie sich innerhalb der vor mir liegenden drei mal vier Meter durchsetzt, ohne penetrant zu sein und frage mit der inneren Haltung eines freundlichen Strafrichters: „Würde jemand der jüngeren Herrschaften vielleicht so aufmerksam sein, den Herrschaften einen Platz anzubieten?“ Das funktioniert meistens besser als gedacht. Selbst finster dreinschauende Neuköllnbösewichte, die sich in ihrer Erscheinung am kriminellen Personal der Serie „4 Blocks“4 orientieren, nehmen den Appell an ihre Ehre ernst, springen auf und ringen sich in beinah ganzen Sätzen Höflichkeit ab.
Im Winter öffnete ich einmal ein S-Bahnfenster, weil ein Quartett vollgetankter Promilletouristen einen brechreizelenden Schnapsgestank ausdünstete. Einer quengelte sofort wegen der Windeskälte. Er beleidigte mich in einer Fremdsprache und schloss das Fenster. Ich öffnete es wieder. In solchen Situationen denke ich jedesmal, gleich blitzt irgendwo ein Messer. Hätte ich doch mehr Zeit mit Kung-Fu, Thaiboxen und Krav Maga verbracht als mit romantischen Diners bei Kerzenlicht!
Moralisches Hartgeldniveau
In Berlins S-Bahnen wird mit dem 29-Euroticket demnächst der Monatstarif halbiert, ich bin gespannt, ob das einen Effekt auf das Sittenlevel im ÖPNV hat. Es gibt keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Armut und dem Mangel an Anmut: ich weiß aus meiner Erfahrung als Barpianist in Grandhotels, dass Geld in den Taschen der Gäste diese nicht zwangsläufig zu Nobelpreisträgern der Manierenkunst macht. Trotzdem erwarte ich vom neuen Dumpingtarif umgekehrt keine Hochkonjunktur der Umgangsformen. Es könnte sein, dass mit der Preissenkung auch manche Hemmschwelle auf moralisches Hartgeldniveau fällt: macht der hedonistische Berlin-User die Lache aus Erbrochenem und Bier noch weg, in der es sich auf der schunkeligen Schiene bequem macht, wenn er weiß, dass seine Reiseherberge für den Gegenwert einer 3-Tagesration Chantré-Weinbrand zu haben ist?
Prüfung der Menschenwürde
Die BVG denkt über die Einführung einer 1. Klasse in der S-Bahn nach. Viermal so teuer, aber mit Sitzplatzgarantie, Steckdose und W-LAN. Ich bin sehr dafür! Die Mitnahme soll aber nicht an den Fahrpreis gekoppelt sein, sondern an eine rasche, freundliche Prüfung der Menschenwürde. Eine Oxfordabsolventin soll von der BVG autorisiert werden, zu entscheiden, wer an Bord darf. Jeder neue wohlriechende Gast bekommt einen Begrüßungstee und bekennt sich zu kultiviertem Austausch unterm Kronleuchter im Salonwagen. Krakeelende Kampen-Knaben und Sylt-Söldnerinnen werden der Bahnhofs-Mission übergeben.
Neu erfundene Wörter in diesem Sonntagskind: dummtrunken, Tropf-Döner, Harmonieherstellungszwang, Anstandssucht, Gerechtigkeitstick, Neukölln-Bösewicht, hochflorteppichgedämpft, brechreizelend, Moralnase, Reiseherberge, Sittenlevel, Sylt-Söldnerin, Inselgesindel.
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P.S.: Noch mehr S-Bahnpoesie in diesem Sonntagskind:
Hier ein Rundfunkbeitrag über Bodymodification. Nichts für schwache Nerven!
Hier berichtet ZEIT-online über das Inselgesindel.
Hier bitte nachlesen:
Hier der Trailer zur 1. Staffel von 2017.
Du hast es mal wieder getroffen. In der Samstagsausgabe der Sz war auch ein genialer Kommentar. So die Richtung: wollen wir nicht auch von diesen kleinen Paschas die Vornamen wissen. Sicher nicht Mohamed , sondern eher Paul oder Florian.