Warum sagen alle immer „tatsächlich“? Ich muss gestehen, dass ich mir bei dieser leicht motzigen Fragestellung nicht besonders gut gefalle: schließlich möchte ich als von Gleichmut und mentaler Großzügigkeit durchstrahlter Galan erscheinen, den eine Petitesse im Sprachgebrauch nicht aus der Fassung bringt. Klappt leider nicht. Wenn die „Tatsächlich“-Schwemme dann auch meinen Lieblingssender Deutschlandfunk unterwandert, knallt mir die Hutschnur durch. „Tatsächlich“ ist ein wirkungsloser Zauberspruch, ein Abrakadabra ohne Nährwert. „Tatsächlich“ ist eine Unverschämtheit; eine Steilvorlage für den Sturz in den Abgrund kommunikativen Niveaus: Nach einem Satz mit „tatsächlich“ sollte „Erstaunlich!“ aus uns herausplatzen, weil wir nicht für möglich halten, welche Jahrhundertnachricht uns verkündet wird. Das ist, als ob man an jeden billigen Schlager das Ende von Mahlers 2. Symphonie ranpappt. „Da hat mich mein Freund,” wundert sich Verena, „den ich seit Jahren wie den letzten Dreck behandele,” führt sie bestürzt fort, „doch tatsächlich verlassen!“
Tatsächlich: Ein mieses applausheischendes Kürzel, das auf niedrige Reflexe zielt. Ich bin so enttäuscht, wenn Radiosprecherinnen „tatsächlich“ sagen. Sie müssten es doch besser wissen! Nutzen sie meine GEZ-Gebühren etwa nicht, um sich auf Weiterbildungswochenenden in strengen Journalistenschmieden die Blabla-Flausen austreiben zu lassen?
Dabei bin ich ein Floskelfreund: im sprachlichen Umgang erleichtern vorgefertigte Phrasen und Dialogstanzen den Austausch. Keine peinlichen Gesprächspausen durch beliebte Kommunikationspresets. Wer Laber-Gleitcreme allerdings unter solche Sätze mischt, die durch Gehalt glänzen sollen und nicht durch ein Schmiermittel, tut sich auch Vaseline aufs Toastbrot. Oder reibt die Weihnachtsgans mit Wick-Vaporub ein. Das ist gedankenverlorenen. Beim Deutschlandfunk arbeiten Berufs-Schlaumeier. Sollen sie zu Weihnachten einreiben, was sie wollen, aber in Sprachangelegenheiten erwarte ich von ihnen Akkuratesse.
Mit „tatsächlich” ist es ein bisschen wie im Englischen, da füllen viele Sprachnutzer ihren Redefluss mit der Floskel „literally“ auf. Das heißt „buchstäblich” oder sinngemäß „im wahrsten Sinne des Wortes” und ist genauso eine Faselbinse wie „tatsächlich“. In New York soll es ein Lokal geben, dessen lingualsensibler Betreiber ein Schild aufgestellt hat, das seinen Gästen das Aussprechen des beliebten Blähworts untersagt. Wer beim „literally“-Sagen erwischt wird, bekommt noch 5 Gnadenminuten für sein laufendes Getränk und anschließend Hausverbot. Bei der wenig sparchsorgsamen Dlf-Redakteurin würde es so klingen: „ … bekommt noch 5 Gnadenminuten für sein laufendes Getränk und anschließend tatsächlich Hausverbot.“ Unnötig, kunstlos, einfallsarm! Der Richter hat gesprochen. Ich schäme mich für meine Härte, aber es muss raus. Man sollte das Wort verbieten!
Der Film „Tatsächlich Liebe“ darf meinetwegen weiterhin so heißen. Sentimentale Weihnachtsheuler wie ich nennen den Klassiker der tränenrührenden Romcoms ohnehin beim Originaltitel „Love, actually“. Wobei das englische Eigentlich-Pendant „actually“ auch ein bisschen schlimm ist.
Aber Verbote nützen nichts, man kann es nur übers Geld regeln: Ökonomen haben Politikmaßnahmen der letzten 20 Jahre ausgewertet, um zu prüfen, welche Art von Regelungen funktionieren. Ihr Fazit ist deutlich: Verbote und Gesetze bringen wenig. Wer etwas bewegen will, spielt mit den Preisen: Verteuerungen von Kraftstoff und Verbrennermotoren, gepaart mit Vergünstigungen bei der Elektromobilität sind das richtige Mittel, will man weniger Abgase und mehr schnurrende E-Mobile auf den Straßen. In Skandinavien klapt so etwas offenbar besonders gut. Wie es da sprachhygienisch aussieht, weiß ich nicht. Seit ich ein paar Folgen „Liebe und Anarchie“ auf Netflix gesehen habe, denke, ich dass Schwedinnen reden können wie sie wollen, es klingt für mich wie Musik aus einer besseren Welt – ob das nun tatsächlich so ist oder nicht. Können die nicht beim Deutschlandfunk anfangen? Das wäre nur ein bisschen anarchisch, aber sehr liebevoll.
Neu erfundene Wörter im 156. Sonntagskind: Jahrhundertnachricht, Dialogstanzen, Kommunikationspresets, Floskelfreund, Blabla-Flausen, Laber-Gleitcreme, Berufs-Schlaumeier, Faselbinse, lingualsensibel, Blähwort, Eigentlich-Pendant, Gnadenminute, sparchsorgsam.
Liebe Freundinnen, Freunde – Sonntagskind kommt zuverlässig seit über drei Jahren an jedem Sonntag. Das soll so bleiben, und zwar für umme. Je mehr Leute Sonntagskind abonnieren und lesen, desto mehr Leute werfen gelegentlich ein paar Euros in den Hut – das tut gut. Darum freue ich mich über jede Empfehlung, und jeden Euro. Danke!
Bis nächste Woche
Euer Mark
Und bitte noch die Bekräftigungsfloskel "genau" mit in den Kanon aufnehmen!
Noch schlimmer finde ich, wenn Worte der englischen Sprache eingedeutscht werden. Das kann ich tatsächlich nicht appreciaten...