Ich lege gerne eine Schallplatte auf. Sinkt die Nadel auf die Rille und erklingt das kleine Knisterfeuerwerk, beginnt eine feierliche Musikhörzeremonie. Bevor es so weit kommt, hat man die Platte aus zwei Verpackungen befreit und womöglich eine andere Scheibe wieder genauso aufwändig verstaut. Da fummelt man nicht gleich am Tonarm und sucht den Anfang vom nächsten Stück, wenn das Intro nach einer Sekunde nicht ballert. Die Vorarbeit schafft Wertschätzung. In der handwerklichen Symbiose mit dem Plattenspieler erlebe ich mich als im analogen Zeitalter verwurzelte historische Gestalt. Das 20. Jahrhundert steckt in meinen Genen. In meinem Gehirn bewegen sich noch Zahnräder, bevor ich spreche. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass man eines Tages keine Cassetten mehr aufnehmen muss, um Musik dabeizuhaben. Hat man irgendwo Musik gehört, die man kennenlernen wollte, merkte man sich die Melodie. In Bremen ging es dann zum einarmigen Experten im Fachgeschäft „Die Schallplatte“, der wusste Bescheid. Ihm konnte man ein paar Töne vorsingen, er verschwand dann kurz und kam mit der Single wieder. Man begegnete ihm mit Respekt. Ob er noch lebt? Keine Ahnung, aber seinen Job übernehmen Apps wie Shazam oder Soundhound.
Spotify ist auch toll. Alle Musik gibt es jederzeit, an jedem Ort. Herrlich! Nicht so herrlich: das ganze viele Geld landet vor allem in den tiefen Taschen der Musikhändler. Ein kleiner Vergleich: Verkaufte ich bei Itunes früher einen Song für einen Euro, kamen 80 Cent davon bei mir an. Meine Lieder wurden im vergangenen Jahr zweiundvierzigtausendmal auf Spotify gehört. Ich finde das spektakulär! Wer sind diese geschmackvollen und sicher sehr gutaussehenden Leute, die so viel Zeit mit meiner Musik verbringen? Für diesen, wie ich finde, sagenhaften Erfolg, bekomme ich 76 Euro, denn eine Menge meiner Songs wurden nur ein paar hundert Mal gehört und dadurch von Spotify gar nicht ernstgenommen.
Das findet Frank Briegmann richtig. Er ist Europa-Chef von Universal-Music. In seinen Augen kann es sich bei den bedauerlichen Gestalten mit weniger als 1000 Streams pro Song nur um Hobbymusiker halten. Wannabes ohne Anspruch auf Vergütung für ihren amateurhaften Zeitvertreib. Freundlicherweise erklärt uns der Hobbywirtschaftsphilosoph, was echte Künstler ausmacht:
„Aus unserer Sicht müssen echte Artists gestärkt werden. Das sind solche, die viele monatliche Hörer haben und auch dafür sorgen, dass Abos abgeschlossen werden und das Ökosystem wächst.“
Er lebt in seiner eigenen Welt, in der Musik nur dann einen Wert hat, wenn sie auf finanzielle Gegenliebe trifft. Ich finde, wer Musik bewertet, ohne sie zu hören, sollte naturgemäß über Musik den Schnabel halten. Aber vielleicht bin ich einfach zu sehr 20. Jahrhundert. Oder neidisch auf Taylor Swift.
Ich kenne viele tolle Komponistinnen und Songwriter, die originelle Musik hervorbringen, an deren Schöpfungshöhe niemand mit Sachverstand zweifelt. Viele von ihnen kriegen das mit dem Marketing nicht hin, oder sie sind verschroben und wirken unsympathisch. Oder nicht unsympathisch genug, um wenigstens mit Klaus-Kinski-Vibes zu punkten. Es gehört eben einiges dazu, von seiner Kunst zu leben, die Kunst allein macht es nicht. Man braucht auch Geschick, Ausdauer und die Gunst des Zufalls.
Heute ist zum Glück viel mehr möglich als früher. Für Digital Natives, die mit dem Smartphone gestillt wurden, ist Lernen auf digitalen Plattformen selbstverständlich. Mein Freund Thomas ist Geigenprofessor: Er hat einen Straßenmusiker angesprochen, dessen virtuoses Violinspiel ihn so beeindruckte, dass er ihn zur Aufnahmeprüfung vorschlug. Wo der Junge so gut spielen gelernt habe? Youtube. Irre.
Die Schwellenhüter der vorherigen Generationen verlieren ihren Einfluss, ihr Nimbus verpufft. Dunkle Zaubersprüche wie „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ verhallen im Nichts der Bedeutungslosigkeit. Selbst das zynischste aller Lebensratgebersprüchlein aus der finsteren Zeit der Pädagogik wirkt nicht mehr: „Wer nicht kann, was er will, muss wollen, was er kann.“ Das stimmt mich zuversichtlich. Dem Universal-Chef möchte ich aber die Abwandlung eines üblen Erziehungs-Bonmots zurufen: Wer nicht hören kann, soll schweigen.
Ich habe Euch eine Spotify-Playlist gemacht, mit den schönsten Weihnachtsliedern, die ich je auf Schallplatten gehört habe, bitteschön:
Sonntagskind ist frei wie das Weihnachtslied auf deinen Lippen. Wenn du mir eine Freude machen willst, hör ein paar Millionen Mal meine Songs auf Spotify – oder wirf eine Münze in die Sonntagskind-Jukebox, dann klingt im nächsten Sonntagskind eine gesungene Dankeszeile. <3
Nordlichter! Wie wär’s, wenn Ihr am 4. Januar ins Lutterbeker in Lutterbek bei Kiel kommt? Bevor das Jahr so richtig los geht und die Apokalypse gilt, einmal Weltuntergang mit Stil feiern! Tickets gibt es hier.
Zugegeben: Dieses 170. Sonntagskind ist nicht gerade weihnachtlich. Wer mag, liest vergangene Weihnachtskolumnen:
Spotify wird zunehmend kritisch gesehen. Der New Yorker hat dem Thema gerade einen längeren Beitrag gewidmet.
"Spotify recently projected that 2024 would be its first full year of profitability; one investment analyst told Axios that the company had “reached a level of scale and importance that we think the labels would be engaging in mutually-assured devastation if they tried to drive too hard a bargain.” Its success seems to have derived partly from cost-cutting measures: in December, 2023, it eliminated seventeen per cent of its employees, or about fifteen hundred jobs. Some music-industry groups also say that Spotify has found a way to pay less to rights holders by capitalizing on a 2022 ruling by the Copyright Royalty Board which allows services bundling different forms of content to pay lower rates."
https://archive.is/2024.12.23-232454/https://www.newyorker.com/magazine/2024/12/30/mood-machine-liz-pelly-book-review
Der Chef von Universal hat die gleiche Einstellung wie das Finanzamt 😱 Letztlich hatte Beuyes wohl recht: Ohne die Abschaffung des Geldes kommen wir nicht weiter 😁 Und: wählt keine Partei. Wählt die Kunst! 🍀🎉