Liebe Sonntagskindreader,
die gute Nachricht zuerst: wir werden in Zukunft wieder mehr Zeit für Spaziergänge haben. Die Zeiten, in denen wir uns vorm Computerbildschirm den Rücken verbiegen müssen, sind vorbei. Die KI nimmt uns allen jegliche stumpfe Büroplackerei ab. Sie erinnert uns daran, dass in jedem von uns ein Wunder wohnt, dass wir überraschende, kreative Menschen auf einem mindblowing Erkundungstrip sind, wie wir es als Kinder schon einmal waren – bevor wir die Reiseleitung an den Ernst des Lebens abgegeben haben.
Was muss es für eine Revolution gewesen sein, als die erste Waschmaschine den Alltag der Hausfrauen veränderte? Schluss mit der verdammten Zwangsarbeit und schrumpeligen Fingern vom stundenlangen Wäscheschrubben auf dem Waschbrett. Und jetzt? Wenn wir schlau sind, befreit die KI unsere plattgesessenen Popos. Erstmal aber eine kleine Geschichte:
Bei einer Probe im Theater sitze ich am Klavier, um die Schauspielerinnen bei ihren Liedern zu begleiten. Es handelt sich um ein Stück von Brecht, mit Musik von Hanns Eisler. Die Stimmung ist ausnahmsweise ausgelassen. Ich erlaube mir spaßeshalber, ein ansonsten ohne jeden Humor dargebotenes Kampflied im Reggaestil zu begleiten. Das Ensemble und der Regisseur haben ihre Freude daran und rufen weitere Stile ab: so spiele ich das Lied der Arbeiter, die nicht nur den Flicken haben wollen, sondern den ganzen Rock1, als Tango, Bossanova, à la Mozart und im atonalen Stil. Als Korrepetitor gehöre ich sonst zu den Schattengestalten der glamourösen Theaterwelt – mit meiner Improvisationskunst und der Fähigkeit, die verschiedenen Stile zu am Klavier hinzuschummeln, stehe ich jetzt im Licht der allgemeinen Bewunderung. Man sagt mir, wie begabt ich sei, ich schaue in funkelnde Augen und darf mich wie Franz Liszt fühlen.
Das ist schon ein paar Jahre her. Seit ein paar Tagen lässt uns künstliche Intelligenz erahnen, dass so etwas für sie ein Kinderspiel ist. Ein Lied durch einen Haufen unterschiedlicher Stile zu schicken, erfordert eine Menge Geschick und Know-How für einen Pianisten, noch mehr Handwerk und Kenntnis, will man ein Arrangement für eine Band oder ein Orchester anfertigen. Für die KI ist sowas pillepalle. Auf der Seite www.udio.com kann man sich im Nu Musik zusammenbasteln lassen, die es noch nicht gibt, weil man sie sich gerade erst ausdenkt. Ein Song übers Frühstücken im Stil des jungen James Brown der 1960er? Bitte schön – ich denke mir ein paar Zeilen aus, die J.B. auf Deutsch über die Lippen kommen könnten und stelle mir den vor Temperament explodierenden Mr. Sex Machine vor (bitte den folgenden Text mit übertriebener sexueller Spannung über den Frühstücktisch bellen, dann erst hören):
Es ist Sonntag, Baby,
Frühstück!
Ah!
Gib mir die Butter.
Gib mir die Butter.
Ich hab es gespürt,
das Ei ist gerührt.
Iss es! Iss es!
Es ist Sonntag, Baby!
Und so klingt das Kunstwerk beim deutschsprachigen KI-James Brown:
Ich bin sprachlos – so ähnlich könnte ein deutscher Sänger klingen, der den hardest working man in showbusiness nicht nur kopiert, sondern auch begreift2. Die Band spielt authentisch den superdisziplinierten Stil der vom Meister zur Reduktion genötigten Famous Flames, der schrottige Sound ist nah dran am James Brown-Album „Live at the Apollo” – und trotzdem hat es diese Musik so noch nie gegeben.
Ich phantasiere weiter: wir gehen in die 1950er, ich stelle mir eine zärtliche Ballade vor, mit Orchester und viel Zeit. Rasch dichte ich ein paar Zeilen, die meinen persönlichen Stil zu texten mit der altmodischen Attitüde des Schlagerpathos der Peter Alexander-Zeit verbindet. Wenigstens das nimmt mir die KI nicht ab (bitte den folgenden Text mit Grabesmiene am Frühstückstisch vortragen:)
Bist du mein Sonntagskind?
Bringst du mir am frühen Morgen,
in der milden Sonnenluft,
mit gewürztem Kaffeeduft
Zeilen, die mich amüsiern,
die durch meinen Geist spaziern?
Sag es mir, sag es geschwind:
Bist du mein Sonntagskind?
Ananas und Konfitüre,
Cappuccino, Obst und Toast.
Alle lächeln, keiner grummelt.
Sonntags sind wir nicht erbost.
Bist du mein Sonntagskind?
Gehst du mit mir durch das Leben,
wenn das Wochenende naht,
bist du gern mit mir privat,
auch am Montag in der Früh,
wenn der Wecker Funken sprüht?
Ruf es in den Freitagswind:
Bist du mein Sonntagskind?
Die diabolische KI komponiert und produziert in Sekundenschnelle. Das hätte ich zwar auch hinbekommen, allerdings mit viel mehr Zeit und Personal. Ich bin eifersüchtig auf dieses Monster, das blitzschnell die idiomatisch richtigen Entscheidungen trifft und mich auch noch hier und da mit eigenwilliger Orchestrierung überrascht, vor allem mit der langen Pause vor der Reprise:
Nun gut, Tingeltangeloperettenpop für Witwen, und am Ende hatte der Komponist keine wirkliche Idee und offenbar schon wieder vergessen, wie der Song anfing. In ein paar Wochen wird das bestimmt schon viel besser gehen, wenn es nicht verboten wird. Aber wie ist es mit der ernsten Muse? Ich stelle mir den letzten Akt einer romantischen Oper vor: fettes Orchester, ein übertriebener Bariton, der Opernchor ruft im dreifachen Forte. Schnell ein Libretto entworfen, bitte laut und erhobenen Hauptes vortragen, mit Bedeutung im Blick, dann erst hören, was die KI aus meiner Frühstücksoper macht (besonders gelungen finde ich die Vertonung der Zeile „Das Glücksversprechen hält der Woche Unterwelt”:
Sieh es ein, du Mensch, der du da bist:
Dein Leben folgt einer sonderbaren Spur.
Wochentags bist du Knecht
von Plan und von Frist,
doch sonntags, da lächelst du nur.
Sonntags gibt es
Frühstücksliteratur,
Frühstücksliteratur!
Der Montag graut, der Dienstag nagt,
mittwochs droht der Donnerstag.
Der Freitag ringt dich beinah nieder,
Samstag stehst du auf und wieder,
wieder ist
Sonntag! Sonntag! Sonntag!
Keine Termine,
wir ziehn das große Los,
heute sind wir verantwortungslos!
Das Glücksversprechen hält
der Woche Unterwelt!
Ich bekenne nun, vom Glücke blind:
Ich bin, ich bin ein Sonntagskind! Sonntagskind! Sonntagskind!
Sonntagskind!
Frühstückliteratur am Sonntag!
Weltuntergang mit Stil,
Sonntagskind!
Irre. Diese Produktion würde sich eine Werbeagentur sechsstellig bezahlen lassen. Was alleine das Orchester kostet! Auch einen dramatischen Bariton, der fast jedes Wort verständlich singt, gibt es nicht an jeder Straßenecke. Wen stört es da, dass sich hier drei virtuelle Sänger die Partie teilen?
Wenn man bedenkt, dass diese Technologie gerade erst am Anfang steht, kann man ahnen, wohin die Reise geht3. Ich wage eine Prognose:
Jegliche Funktionsmusik entgleitet den Händen der Komponistinnen, Songwriter, Textdichter. Musik in Fernsehserien und Werbespots muss nicht mehr komponiert werden: solange es den Verantwortlichen nur darum geht, aus Klischees etwas passendes und funktionales zusammenzusetzen, braucht es keine eigenschöpferische Anstrengung mehr. Die KI spuckt soviele Varianten aus, bis etwas passendes dabei ist, das dann bearbeitet werden kann. Produzenten und Händler werden sich hüten, horrende Filmmusikbudgets für Orchester und uns anstrengende Möchtegernbeethovens aus dem Fenster zu werfen.
Zumindest dort, wo es reicht, eine geschmacklich treffende und alle Beteiligten zufriedenstellende Musiktapete herzustellen, die genau passt. Es wird nicht lange dauern, da wird man wesentlich gezielter als heute Parameter eingeben können, die die gewünschte Musik zusammenstellen. Endlich können Redakteure bei der Gestaltung von Filmmusik mitreden: „Mach da mal was mit Saxophon an der Stelle!” – „Ach nee, ich meinte Trompete. Oder Tango!”
Es wird ein Kinderspiel sein, eine Melodie, die man selbst komponiert hat, im Stil von Mozart, Eisler, Udo Lindenberg, Kraftwerk oder John Williams erklingen zu lassen. Das spart Zeit und enorm viel Geld.
Die schlechte Nachricht: Wer von der KI kopiert wird, hat nichts davon. Das Urheberrecht schützt Melodien, nicht aber Stile. Hoffentlich verändert sich das zugunsten der vielen Autorinnen, Komponisten und phantasievollen Kreateure unserer über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen DNA – von Hildegard von Bingen bis Helge Schneider, von Palestrina bis Prince.
Im besten Fall führt die KI aber nicht nur zu einer Schwemme von Gebrauchskunst, die immer wieder die aus ihnen bestehenden Elemente bestätigt, indem sie sie neu zusammenfügt. Sie sorgt vielleicht für mehr Originalität unter uns Künstlern – und – das ist meine persönliche Hoffnung: wir alle werden der Dauerbeschallung in Geschäften, Restaurants, am Telephon in Warteschleifen und im öffentlichen Raum überdrüssig und zelebrieren Musik wieder als Sensation. In Konzertsälen, in Salons, in Jazzclubs. Denn wenn der Strom ausfällt, kann die KI einpacken.
Liebe Freundinnen und Freunde, postet gern Eure KI-Kreationen hier und lasst uns austauschen:
Solange die KI noch keine Bitcoins druckt, freue ich mich über jede Unterstützung von Sonntagskind:
P.S.: Das Thema KI wollte schon zweimal im Sonntagskind vorkommen. Seit „Laubbläser” und „Natürlich künstlich” ist eine Menge passiert:
Wer möchte, gönnt sich den Spaß auf www.udio.com, sich selbst Musik zusammenzubauen.
Lieber Mark,
danke für deine Kolumne, und danke für diese Ausgabe im Speziellen!
Sie hat mich wieder einmal daran gehindert, das Thema einfach auszublenden.
Es ist nämlich so ungeheuerlich, dass ich es nur allzu gerne ignoriere.
Wichtig und hoffnungspendend ist dein Verweis am Ende, sich auf die eigene Originalität zu konzentrieren und diese möglichst noch zu forcieren. Auf diesem Gebiet können wir gegenüber der KI wohl weiterhin die Nase vorn haben. Dafür braucht es aber auch ein Publikum, das diese Originalität weiterhin erkennen kann und zu schätzen weiß.
Hoffen wir das Beste!
Oh Mann, ich habs ausprobiert und finds fast beschämend, weil ich es brauchen kann. Direkt heute. Eigentlich habe ich eine förmliche (derartige)Technik Allergie. Weil der Fokus allein am Output liegt. Keiner verstehts was da in der Maschine vor sich geht, den meisten ist es egal, da kompliziert und am Ende zählt nur was rauskommt und dass es "Effekt" hat. Bedienung via Button, grenzenlose Auswahl und Möglichkeiten und alle sind glücklich. :-(
Aber um heute mit einer meiner theaterpädagogischen Gruppen weiterarbeiten zu können fehlte Material. Deshalb hab ich mich verleiten lassen Szenentexte in die app reinzuwerfen und die Vertonungen dankbar anzunehmen. Für solche Zwecke toll! Aber eigentlich will ich meinen Schülern und Schülerinnen ja das umfängliche "Do it yourself real" und ausschließlich "Fake it in case of emergency" vermitteln. Deshalb muss ich unbedingt irgendwie noch "Song - do it yourself " lernen. Um die freie Wahl zu haben. Heute aber rettet mich dein link ein bisschen, lieber Mark. Von Chat GPT halte ich mich aber weiterhin fern.