Der Zungenkuss aus der Hölle: Wenn Du nach dem Aufstehen als erstes Dein Handy checkst und der Instagram-Abgrund seinen notgeilen Arm um Deine Schultern legt – die Vampire gieren am Frühstückstisch und warten, dass es endlich was zu futtern gibt: Dich!
Sie lungern zwischen Deinen Croissants in Gestalt der freundlichen Gen-Z-Coach-Lady, die Dein Mindset tätowiert, mit flotten Glaubenssätzen aus der Positivdenken-Szene. Sie schlägt vor, Deine Zeit nicht mit Scrollen und Glotzen von Reels zu verschwenden. Die anderen Vampire: um Aufmerksamkeit buhlende Betroffene, Diskriminierte, Verletzte. Aufmerksamkeitsjunkies im Außendienst der Mephisto GmbH. Sie ästhetisieren ihre Wunden, um Dir seelische Selbstverletzung schmackhaft zu machen. Ein melancholischer Rapper nölt mir ins Ohr:
Diese Gegenwart, Freunde, ist ne abgefuckte Zeit,
ich schlurfe wie ein Dieb durch mein ausgeknocktes Life.
Ich will nicht schlurfen. Mein Ausweg aus dem digitalen Inferno: Laufen – ich renne und nach fünf Kilometern habe ich die Frühstücksgesellschaft aus meinem Kopf. Der Onlineteufel sucht sich nahrhaftere Opfer.
Die Laune verbessert sich. Ohne äußeren Grund. Ohne dass sich die Nachrichtenlage verändert hätte. Das Gehirn schaltet um – von Dystopie auf Durchzug.
Der Klagerapper sucht weiter einen Zugang zum begehrten Terrain unter meiner Haut:
Ich weiß wie es ist, happy unterwegs zu sein,
hab früher Leute angelächelt wie ein perverses Schwein.
Mein Herz schlägt seinen eigenen Beat, groovt besser als der Insta-Hiphop: Meine Laufschuhe von True Motion1 tragen mich zum Lokal einer Kleingartenkolonie zwischen Charlottenburg und Spandau. Ich setze mich in einen der sonnenbestrahlten Strandkörbe, die angenehm in der Gegend herumstehen. Heute bin ich zum vierten Mal hier, aber etwas ist anders. Sonst fragt mich die Kellnerin immer: „Weeß er schon watta will?“ – Ich glaube, Siezen ist nicht in ihrem Repertoire. Duzen wollte sie aber auch nicht – vielleicht, weil ich immer so spreche, als wäre bei der Jahreszahl noch eine 19 vorne, und ihr pilsduftendes Gartenlokal unter den Bahngleisen wäre in Wirklichkeit ein Jugendstilpavillon im Wien des Fin de Siècle.
Jedesmal bestelle ich einen Kaffee und eine große Apfelschorle. Beim Bezahlen wird ein Block zur Hand genommen und hochkonzentriert etwas gekritzelt. Dann heißt es: fünfzwanzig! Oder: fünfsiebzig! Auch vierachtzig hatte ich schon. Immer für die gleichen zwei Getränke. Ob sich die Preise so oft ändern oder immer neue Rechenarten ausprobiert werden? Ich weiß es nicht.
☕️ Kommentare sind wie Kaffee für den Autor:
Sie machen wach, motivieren und schmecken besser als stille Post im E-Mail-Postfach. Ich freu mich auf Deine Gedanken .
Heute höre ich: „Weeßte schon watte willst? Wie imma wa?“ – Ich werde geduzt! Noch nie fühlte ich mich so angenommen. Es ist ein Unterschied, ob man nachlässig von schnöseligem Berlin-Mitte-Personal herabgeduzt oder von einer fürsorglich bewegten Eingeborenen in den inneren Kreis erwünschter Kunden hereingeduzt wird.
„Jibma n Fünwa glatt!“ – sagt die Wirtin beim Abschied, heute ohne Rechenblock. Ich gehöre dazu. Sollte ich mal Hilfe benötigen, bilde ich mir ein, hier bekäme ich Unterschlupf und eine warme Suppe. Sicher keine geeiste Gurkencreme-Soup an einer karamelisierten Pfirsichspalte in veganem Schmand von der Steinpilzessenz, aber irgendwas Deftiges von Herzen. Von Leuten, die genau das machen, was sie tun. Keine Eigentlich-etwas-anderes-Macher.
Der innere Rapper ist eigentlich ein verkannter Philosoph, er traut der guten Stimmung nicht:
Ich nehm Kontra-Anti-Depressiva gegen die Scheiß-Happiness,
hab nie gewollt, dass es so kommt, doch überall ist Feelgood-Stress.
Ich hab ein Recht auf Scheiß Laune, wenn diese Welt gerecht ist,
ich gebe alles dafür, dass der Vibe schön schlecht ist.
Es gibt Tage, da gewinnt der Insta-Vampir.
Aber heute nicht. Heute hat das Leben offline einfach besser geküsst.
🧃 Jibma n Fünwa glatt!
Danke fürs Bis-zum-Ende-Lesen des 197. Sonntagskinds. Falls Du das Gefühl hast, dass Sonntagskind mehr wert ist als ein Instagram-Reel, kannst Du hier ein paar Euro dalassen. Danke!
❤️ PS:
Falls Du gerade keine Zeit hast zu kommentieren oder zu teilen – ein Klick aufs kleine Herzchen unten hilft der Sichtbarkeit dieser Kolumne. Und ich als applaushungriger Künstler kriege mit, dass Du da bist – und dass Sonntagskind auch in Deinem Kopf ein paar Runden dreht. Danke!
Triggerwarnung – die Plakatkunst der sanitären Anlagen in meinem Lieblingsgartenlokal ist nichts für schwache Nerven:
Du bist herzlich willkommen, wenn dir Stacheldraht nichts ausmacht: Widersprüchliche Botschaften in der Kleingartenkolonie
Nur für Euch, liebe Lesende, etwas zum Hören. Den Klagerap habe ich der Instahölle angedichtet, den gibt es so noch nicht. Das Schreiben der miesepetrigen Zeilen hat mir eine derartige Laune gemacht, dass ich sie gleich aufgenommen habe:
Was meint Ihr, soll ich unter dem Pseudonym badmood68 eine Seniorenkarriere als Nörgelrapper starten und im Fernsehgarten auftreten?
ÜBRIGENS, Berlin people: Am 22. Juli in Charlottenburg bin ich zu Gast im Salon von Konzertpianistin Heidemarie Wiesner: Aperitivo Musicale im Klick-Kino in der Windscheidstraße 19. Wir lesen ein paar Sonntagskindkolumnen und es gibt Musik. Sag, dass Du kommst, dann rappe ich auch den Nörgelsong
:
UND NOCH WAS: In einer meiner Kolumne Huprecht für Idioten habe ich mich als Sprachgott hochgesockelt – und dabei einen peinlichen Fehler gemacht: In einer supereitlen Ellipse, in der ich mich erst selbst lobe, um mich dann durch Fremdverehrung klein zu machen, habe ich meine wackelige Souveränität mit einem falschen Küchenlateinerplural zum Einsturz gebracht – auf meinem sogenannten Gymnasium brachte man mir eben nur bei, wie man Anti-AKW-Transparente bemalt und Joints mit drei Blättchen dreht. Nur so kann ich mir diesen LAPSUS erklären:
„Als Sprachexperte bin ich ein unschlagbarer Rechtschreibprofi. Ein Grammatikhengst, ein orthographisches Genie. Dachte ich. Seit einiger Zeit weist mich meine allerliebste Deutschlehrerin Katja Thal auf schriftsprachliche Lapsi in meinen Sonntagskindkolumnen hin.”
Dann wurde ich gleich dreifach ermahnt. Von Holger, Elisabeth und einem treuen Leser (mit dieser Umschreibung möge ich seine wahre Identität verbergen, bat er mich), er schrieb so kunstvoll – und gestattet mir, seine erschütternde Kritik für Euch hier zu veröffentlichen:
„Wie konnte Dir dieser Lapsus passieren? Ein Lapsus. Zwei Lapsus! U-Deklination!
Auch wenn mein großes Latinum recht unrühmlich gerade noch mit ‘ausreichend’ (5 Punkte) ergaunert wurde, weil ich im Unterricht der Oberstufe eigentlich nur auf die wunderschöne dunkelhaarige Constanze schielte - und die war so schlecht in Latein und uninteressiert, dass ich dachte, ich käme ihr näher, wenn ich mich genauso uninteressiert an Latein zeigen würde -, kann ich seltsamerweise immer noch das Phänomen der U-Deklination aus meiner Erinnerung hervorzaubern, wenn ich eine Steilvorlage bekomme.
Also: Keine Lapsi. Finnisch passt Lapsi als ‘Kind’ zu Deiner Kolumne, wenn Du noch das finnische Wort für Sonntag findest. Es ist aber nicht der Plural für ein lateinisches Versehen! Auch wenn aus einem Lapsus durchaus ein Lapsi entstehen kann. Uppsi.”
Die Idee fürs Genre Klagerap kam mir in einer früheren Kolumne, die der üblen Laune gegenwärtiger Miesepeter gewidmet ist – wer Spaß an der Dystopie hat, dass Nörgler die Führung der Gesellschaft übernehmen, liest dieses Sonntagskind, auch bereits mit Joggingbezug:
Das Ende der guten Laune
Es ist die reine Eitelkeit, die mich in die Laufschuhe treibt: ich will meinen Körper nicht der Verteigung überlassen. Wenn es nach ihm ginge, zöge sich die Brust über der ins Gewaltige wachsenden Bauchkugel zurück, an den schmal hängenden Schultern baumelten unbewegliche Fettärmchen, der ganze Oberkörper stapelte sich krumm auf kraftlosen Beinen, auf d…
Auch passend: Warum Social Media besser Lonely Media heißen sollte:
LONELY MEDIA (Repost)
Als ich volljährig war, wollte ich mit aller Gewalt das Leben meines Vaters nachgestalten. Ein Jahr zuvor, als ich 17 war, hatte er sich aus dem Diesseits verabschiedet. Nach einem Lebenslauf, gegen den eine Achterbahnfahrt mit fünf Loopings ein Spaziergang ist, mit nicht einmal 40 Jahren. Vieles, was ich heute tue, kommt von ihm: mein Vater spielte Kla…
Bis nächsten Sonntag, liebe Geneigte, Leserinnen, Neugierige, Abonnenten und Sonntagskindler. 💘 Euer Mark
Ich versuche mal einen Influencermove, vielleicht führt er irgendwann zu einer bezahlten Werbepartnerschaft. Womöglich auf Instagram? 🤣
Spaß beiseite - richtig tolle Kolumne! Danke! 💫
badmood68, chapeau! Richtig geslayt mit deinem Track! Jetzt hab ich richtig schlechte Laune, das ist voll schön❤️🔥