Verehrte Sonntagskindler, Leserinnen, Geneigte, Mitfühlende:
Smalltalk ist unter uns Großdenkern der Hochkultur die kleinstmögliche Entsprechung intellektuellen Niedriglohns.1
Ich bitte, diesen Satz nicht einfach so wegzuschmatzen, wie man es heute macht, wo alles snackable content sein muss. Wir hören es von Social-Media-Managern, man lernt es als Musiker auf der Bühne, beim Schneiden von Tiktokvideos: Vorspiel ist was für Rentner, heute geht es sofort zur Sache, nach spätestens 45 Sekunden ist alles vorbei. Der Quickie ist die Orgie des 21. Jahrhunderts. Die Doppel-LP, die gesammelten Werke im Brokatschuber, die Komplett-Retrospektive – alles kalter Kaffeeschnee von vorgestern. Außer in Finnland, dort lässt man sich Zeit – und kennt für Smalltalk noch nicht mal ein Wort. Der Finne talkt lieber gar nicht als small, heißt es. Wahrscheinlich bedarf es der Wärme, um in Laberlaune zu kommen. Smalltalk brauchen wir nur dort als kommunikatives Gleitmittel, wo sich keine Eiszapfen an den Lippen bilden, wenn man den Mund aufmacht. Wie anders ist das im Communication-Country Nordamerika, wo dich Verkäuferinnen „Honey” nennen und es einfach nett meinen.
Als ich einmal in Washington D.C. war, fragte mich im Hotelaufzug ein freundlicher Herr nach meiner Herkunft und wünschte mir am Ende der Fahrt einen lovely day. Zur gleichen Zeit in einem beliebigen deutschen Fahrstuhl: Eisiges Schweigen, Atemvermeidung, Blickkontaktsperre. In Washington an der Ampel: „Hi, wie geht’s?“ Ernst gemeinte Frage. Passiert dir das in Berlin, tastest du sofort nach deinem Portemonnaie und krampfst die andere Hand um deinen Schlüsselbund, um den Gegner im Ernstfall zu töten.
Ich habe mir nach meiner Amerikareise vorgenommen, etwas gegen unsere teutonische Empfindungsstarre zu unternehmen. Seitdem sage ich der Kassiererin im Supermarkt, wie toll ihre Nägel sind, und wage ein Lächeln, wenn andere mit Blicken töten wollen. Ich begrüße die Leute in der U-Bahn und halte aus, dass mich die meisten für bescheuert halten. Ich rede mit Fremden. Es lohnt sich. Menschen werden interessant, schaut man in sie hinein. Ich betrachte es auch als Geschenk an mich selbst, der Versuchung zu widerstehen, in den allgemeinen Gesichts-Chor der Übelgelaunten einzustimmen und mit meiner negativstmöglichen Ausstrahlung das Stadtbild zu verschlechtern. Ist auch nicht gut für den Tourismus.
Eine Meisterin des snackable content ist übrigens die Malerin Daliah Morena. Sie zeichnet Fremde auf der Straße und überrascht sie mit ihrer Kunst:
Vor einem Supermarkt in Berlin-Wedding gebe ich einem Mann Geld, der im Rollstuhl sitzt. Ihm fehlen beide Beine und seinen Händen die Finger. Ich bin vom Glanz in seinen Augen berührt. Wir kommen ins Gespräch. Er erzählt von seinem Suizidversuch vor über 20 Jahren. Da hat er sich als 19jähriger vor einen fahrenden Zug geworfen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er sein heutiges Leben besser findet als das davor. Ich finde, wenn dieser Mann glücklich sein kann, will ich das auch zumindest versuchen.
Ich weiß aus aus glaubhaften Wissenschaftsquellen, dass Glück nicht durch Sichvergleichen entsteht. Trotzdem hilft mir der Gedanke, dass meine gelegentliche Niedergeschlagenheit und wiederkehrende Melancholie ihre Gründe nicht in einer Welt finden, die ungerecht zu mir wäre. Denn ich bin hier reich beschenkt, mitten in Deutschland, in einem gesunden Körper. Mit dem Glück, meine Leidenschaft zu Geld machen zu dürfen.
Wem dieser Content insgesamt nicht snackable genug ist, sei auf die Konditorei Trahbichler in Baden bei Wien aufmerksam gemacht: Du weißt, dass du ein Suchender bist, angesichts einer Auslage mit Punschkrapfen. Auf jedem Punschkrapfen prangt eine halbe Cocktailkirsche. Sie ist die Clownsnase der Überlegenheit. Der Punschkrapfen weiß, dass du ein Sklave deiner Leidenschaften bist. Durchbrich mit der Kuchengabel die himbeerige Glasur. Sie gibt zunächst nach, dann platzt sie zärtlich auf. Unter ihr birst eine rumkugelige Masse von nussigem Duft in erdlüsterner Feuchte hervor. Prall liegen zwei Hälften der süßklebenden Köstlichkeit auf dem Teller und lassen dein Herz seinen Hunger spüren. Das funktioniert bestimmt auch in Finnland.
Ich wünsche einen herrlichen Beinah-Frühlings-Sonntag und danke fürs Lesen. Wenn Du die freie Presse Sonntagskind unterstützen willst, bitte ich von Konditoreigutscheinen abzusehen, als eitler Präsenior achte ich auf meine Bikinifigur und rühre Kuchen nicht an. Der Kapitalist in mir freut sich stattdessen über jede Spende:
Hier noch ein kleiner Sonntagskind-Lifehack:
Öffne das E-Mailprogramm nur, wenn Du eine halbe Stunde Zeit hast, die Nachrichten auch zu beantworten!
Sonntagskind-History: Vor genau einem Jahr erschien die auf einer kreativen Falschwahrnehmung beruhende Kolumne „Orgasmusopfer”. Aus meiner Sicht die ideale Lese-Ergänzung des 175. Sonntagskinds.
In dieser Sonntagskindkolumne entscheide ich mich, ab sofort ein Intellektueller zu sein. Ich bitte, das zu goutieren.
Seit Jahrzehnten lese ich diesen Newsletter, stelle mir sonntags manchmal sogar den Wecker, um dessen Ankunft nicht zu verpassen - aber die Punschkrapfen-Verehrung ist nun wirklich die phänomenale Kirsche auf allem Bisherigen, und das sage ich als leidenschaftlicher Punschkrapfen-Verehrer.