Verehrte Sonntagskindlerinnen, neu hinzugekommene Gefährten, Abonnentinnen frisch geschriebener Frühstücksliteratur, Freunde der fröhlichen Weltuntergangsbetrachtung,
ich hatte gerade beim Joggen (englisch jogging, zu: to jog = Dahintrotten vor der eigenen Sterblichkeit) einen Gedanken: Könnte der weitverbreitete Glaube an das baldige Ende der Menschheit eine psychologische Auslagerung der Garantie des eigenen Exitus sein? Kommt daher die Faszination, sich selbst als letzte Generation wahrzunehmen? Ich frage das ganz ungeachtet der ganz realen Bedrohungen unserer Natur und will die Ziele der bis vor kurzem selbstklebenden jungen Leute1 nicht geringschätzen. Aber phantasieren wir den Weltuntergang herbei, weil wir eigentlich nicht damit klarkommen, wenn es nach uns irgendwie weitergeht?
Zwanghafte „Das Glas ist halbvoll“-Sager wie ich glauben eigentlich, dass selbst mit Mitte 50 die 2. Lebenshälfte noch nicht begonnen haben kann. Ich sollte also froh sein, dass die Erkenntnis meiner Flüchtigkeit erst allmählich nach meinen katastrophenverweigerndem Geist greift. Ich bin süchtig nach Zuversicht. Hat Karl Valentin gesagt, dass er sich freut, wenn es regnet, weil es auch dann regnet, wenn er sich nicht freut?
Triste Trüblinge und vom Schicksal hart geküsste Hypochonder bereiten sich schon mit Mitte 20 aufs Finale vor. Normale Leute werden sich um den 40. Geburtstag ihrer Sterblichkeit bewusst. Davor sind immer nur die anderen alt. Steht aber die 5 vorne, interessierst du dich auf einmal für Kapitalanlagen, redest über Vorsorgeuntersuchungen und stellst fest, dass die anderen auch immer den Bauch einziehen. Früher torkelte ich im Glücksrausch durchgefeierter Nächte vormittags durch die Fußgängerzone und sah in der Spiegelung der Schaufenster einen gutaussehenden Bonvivant, dem ein Lebenswandel im Stil von Falco nichts anhaben kann. Heute vermeide ich den Blick ins reflektierende Schaufensterglas, weil mich jede Spiegelung an die Fälligkeit einer solchen im Darm erinnert.
Eine erste Vorahnung der garantierten Begegnung mit dem Sensenmann ereilte die meisten von uns in der Pubertät, als kleiner Gruß aus der Giftküche. Zum Glück meist nur in Gestalt einer Pose, die es uns erlaubte, Kreativität in uns zu finden – um aus der Phantasie des Sterbens Kraft für romantische Gedichte, pathetische Songs und düstere Kohlezeichnungen zu entwickeln.
Mir und meinen gleichaltrigen Freundinnen hat Gevatter Tod 1986 ein Amuse-Gueule serviert, das schon deutlich nach Grabstein schmeckte: als im ukrainischen Tschernobyl ein Atomkraftwerk in die Luft flog, waren wir alle geschockt. Die Katastrophe hat unsere düstere Sicht auf die Welt bestätigt – es ging definitiv zuende. Wir gaben uns einander Halt, indem wir uns versicherten, dass es verantwortungslos sein würde, mitten in der Apokalypse noch Kinder in die Welt zu setzen. Es ging dann trotzdem irgendwie weiter.
Mitte der 90er hatte ich eine Band, wir boten eine prächtige Show: Partyjazz mit Las Vegas-Attitüde und ironische Schlager in Bombast-Arrangements.2 Nach einem Konzert in Berlin verwickelte mich eine angetrunkene Konzertpianistin in ein nuancenreiches Gespräch über Schubert, Suizid, den nötigen Ernst in der Musik und vieles mehr, ich verstand nicht alles. Später übernachtete ich bei Freunden in einem besetzten Haus. Plötzlich schreckte ich auf! Ein Schatten in meinem Zimmer, eine lallende, erregte Frauenstimme: „Es gibt einen Unterschied zwischen Morbidität und Todessehnsucht! Du hast Schubert leider nicht verstanden!“ säuselte die Pianistin mit Ernst im Blick unter ihren schlüpfrigen Trinkerinnenlidern. Die Expertin war in meine Behausung eingedrungen und stand in einem schwer einzuschätzenden Zustand über meiner Matratze. Ich spürte ihren Belehrungswunsch, innere Not und ein irritierend aggressives Interesse an mir.
Das letzte, was ich mir wünschte, war die Verwandlung der verfahrenen Situation in ein erotisches Desaster mit dieser Predigerin romantischer Genauigkeit. Vielleicht wollte sie mich umbringen, nach unserem komischen Gespräch hatte ich den Eindruck, sie ist mit dem Tod per du. Ich hatte Angst. Zum Glück verschwand sie. Die Frau auch. Bis heute ist sie nicht zurückgekommen. Solange sie mir nicht beim Joggen über den Weg läuft, mache ich mir keine Sorgen.
Kleine statistische Erhebung:
P.S.: Nach dem vorletzten Sonntagskind (Magie vor Ideologie) schickte mir Kai Stührenberg seinen Vortrag „Die Magie der Gedanken”. Er spricht mir derart aus der Seele, dass ich meine Kolumne um seinen Text ergänzt habe. Ganz nach unten scrollen in:
Dass ich über “die jungen Leute” spreche, ist neu. Seit einiger Zeit werde ich gesiezt. Siehe dieses Sonntagskind:
Hier ein ganz klitzekleines Video von 1995: