Unter Broadway-Applaus springt Elisabeth Champollion, die neue künstlerische Leiterin des Bremer Sendesaals auf die Bühne, in einem champagnerfarbenen Jumpsuit aus Glitzerpailetten. Mit ihr die vier Herren des Ajam-Quartetts aus Berlin. Der Syrer Wassim Mukdad spielt auf der Oud, einer Art arabischer Gitarre1, ein Solo, das sofort erleben lässt, warum der Sendesaal als Klangwunder gilt: feinste Nuancen des Virtuosen auf dem bundlosen Instrument stehen glasklar im Raum. Wassims Finger gleiten über die Saiten und schaffen eine Atmosphäre von Geheimnis und Innigkeit. Auf einmal ballert es los: Kontrabass, Perkussion und Geige formen ein infernalisches Geflecht aus Jazzmelodie und Orientrhythmus.
Ein Russe, ein Syrer, ein Jude und ein Deutscher
Alle spielen auswendig – Sendesaalchefin Elisabeth Champollion an der Blockflöte mitten drin. Tanzend, wiegend, mit Musik kommunizierend. Der Applaus bestätigt das Ensemble – hier findet eine Begegnung mit dem Publikum statt! Elisabeth begrüßt das Publikum zur großen Gala „Türen auf“, in der sich Bands und Ensembles, die in der nun beginnenden Konzertsaison im Sendesaal zu Gast sind, dem Bremer Publikum präsentieren. Das Ajam-Quartett spielt noch einen weiteren multidimensionalen Song. Er heißt „Rothschilds Geige“ und kennt zärtlichen Kaffeehausschmelz genauso wie ekstatische Tanzlust. Bürgermeister und Kultursenator Andreas Bovenschulte spricht anschließend auch begrüßende Worte. Worte für die Musik des internationalen Ajam-Quartetts muss er finden: er sucht bei den Stilen, fragt: ist das Ska oder Folk? Ethno? Jazz? „Offbeat-orientierte Musik“ kreiert er als Stilbegriff im Nachhall des unter der Haut noch nachbebenden Geigensolos.
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Alltag aus, Zauber an
Ich sitze mit 270 anderen Gästen im so voll besetzten Sendesaal, dass sogar auf der Bühne, am Rand, Stühle besetzt sind. Der Weg in den für seine feine Akustik weltberühmten Saal führte heute über einen roten Teppich, durch ein feierlich beleuchtetes Foyer, das rückblickend wie eine Schleuse funktioniert hat: Alltag aus, Zauber an.
Musikalische Gesprächskunst
Elisabeth erzählt auf der Bühne von einer Autofahrt in Frankreich. Im Radio lief Musik, die sie rechts ran fahren ließ. Was hat sie da für ein musikalisches Gespräch zwischen Akkordeon, Schlagzeug, Flügelhorn und Bass gehört, was war das für ein intensiver und stilumarmender Austausch? Sie wartet die Abmoderation im Radio ab, findet die Musiker im Internet – und ruft an. Heute Abend sind zwei der vier Musiker aus dem Radio im Sendesaal: Laurent Derache mit seinem Knopfakkordeon und Mathieu Cahazarenc, der wie in Trance mit Händen das Schlagzeug mehr streichelt und betastet als schlägt. Wenn Künstler dieselbe musikalische Sprache sprechen, versteht sich auch ein Akkordeon mit einem Schlagzeug. Was für ein ungehörter Umgang mit Klang und Rhythmus. Was für eine Botschaft an die Welt!
Elbtonal: Haushohe Wellen an der Weser
Mit auf so liebe- und kunstvolle Art geöffneten Ohren sind wir reif für Elbtonal, das Perkussionsensemble aus Hamburg. Die vier Schlagzeuger tragen Brandung in den Saal: In „The Wave” der japanischen Komponistin Keiko Abe lassen sie einen rhythmischen Hochseesturm toben, der allen im Saal spürbar in die Körper fährt. Mit zwei großen Taiko-Trommeln, Becken, Tom- und Snaredrums, scheppernden Crotales und erbarmungslos dengelnden Röhrenglocken. Über allem tremoliert in grenzmenschlichem Tempo eine Marimba, die von der schwärzesten Tiefe in die schrillendste Höhe reißt. Die vier tänzelnden Könner bringen den Saal in Aufruhr.
Die neue Botschaft alter Noten
Nach der Pause der größtmögliche Kontrast. Eine Blockflöte, einsam und elegisch. Mit ihr kommt Anna Stegmann vom Amsterdamer Ensemble Royal Wind Music in den Saal, kurz darauf begleitet von Elisabeth Champollion auf einer tieferen Flöte. Auswendig gespielt, durch den Raum bewegend, lassen Anna und Elisabeth Musik aus einer anderen Zeit wirken. 400 Jahre trennen diese Aufführung von ihrer Komposition, trotzdem wirkt dieser uralte Notentext aktuell und lebendig. Vielleicht, weil die beiden Musikerinnen einen inneren Grund kennen, diese Musik im Augenblick, angesichts genau dieses Publikums zu formulieren? Ein Filmausschnitt zeigt das 12-köpfige Blockflötensemble, das als „lebendige Orgel“ gilt.
Kraft aus der Versenkung
Dann in bodenlanger roter Robe, mit außerirdischer Eleganz: die Geigerin Elisabeth Kufferath strahlt in ihrer ganzen Erscheinung Innigkeit, Tiefe und Berührbarkeit aus. Sie vertritt ein Solokonzert mit Musik, die speziell für sie komponiert wurde, von Komponistinnen und Komponisten rund um den Globus. Mit einem Ton aus einer anderen Welt erinnert sie uns daran, dass unsere Gedanken nur eine Annäherung an das Geheimnis des Lebens sein können. Die Wahrheit liegt im Klang. In der Musik. In der Versenkung. Der ihr befreundete Geiger Florian Donderer kommt dazu, die beiden bringen uns mit einer klassischen Sonate aus dem 18. Jahrhundert wieder zurück auf festen Boden – mit einer Aussicht auf ein bewegendes Konzerterlebnis im Frühjahr ‘24.
Heilung für Jazzphobiker
Elisabeth Champollion gibt nun die Bühne frei für eine junge Sängerin aus Katalanien mit ihrer Band. Alba Careta singt in ihrer Heimatsprache und vermischt Volkslieder mit eruptivem Jazz. Die Vier swingen und boppen sich durch Piano- und Saxophonsoli, Alba spielt auch Trompete. Mit dem letzten Song versucht sie ein Kunststück musikalischer Liebeskunst: ihre beste Freundin, sagt Alba, ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Die beiden machen alles zusammen, nur auf Albas Konzerte kommt die Freundin nie. Sie hasst Jazz. Also, sagt Alba, hat sie versucht, einen Song zu schreiben, der so klingt, dass er ihrer Freundin gefällt. Der Saal lacht – wie soll das gehen, dass diese ausgemachten Jazzer jetzt wie eine Schmusecombo aus der Tanzveranstaltung klingen? Oder wie eine Singer/Songwriterband aus dem Indie-Sektor? Alba Careta jubelt Jazzphobikern so charmant den Jazz unter, dass man nicht widerstehen kann.
Der Applaus will nicht enden, auch vor allem für Elisabeth Champollion, die durch den Abend geführt, ihre Gäste auf der Bühne gekonnt ins Gespräch verwickelt hat, sogar in fließendem Französisch und Englisch – und dabei gezeigt hat, dass Hochkultur und Unterhaltung zusammengehören.
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Die Oud ist in Wirklichkeit viel älter als die Gitarre. Sie ist die Vorläuferin der Laute. Zu behaupten, die Oud wäre eine arabische Gitarre, ist so, als würde man die Pizza einen italienischen Flammkuchen nennen. Es ist nicht richtig, aber man bekommt eine Idee. Mögen die Besserwissenden mir bitte verzeihen!
Danke für diesen wirklich gelungenen, tollen Bericht. Nix wie hin!!!