Liebe sehr verehrte Sonntagskindlerinnen und -kindler, Freunde, Gefährtinnen und Begleiter, Neugierige und Vertraute, ein herzliches Willkommen auch an die neuen Abonnierenden. Wie schön, dass Ihr da seid!
Heimgesucht vom fiesen Coronavirus ignoriere ich heute schon wieder sämtliche Fußballspiele. Meine türkischen Freunde mögen mir verzeihen, dass ich mich über die Niederlage ihrer Nationalmannschaft freue. Wenn nämlich die Türkei gewinnt, ertrinkt West-Berlin in entsetzlichem Dauergehupe und angeberischem Motorengeheul.
Das ist dann fast so schlimm wie das Gehuste in Richard Wagners Götterdämmerung, der letzten und längsten Oper im vierteiligen Ring des Nibelungen. Da wird Siegfried, der furchtlose Held, von Hagen hinterrücks niedergestochen. Das ist fürchterlich, weil der sehr einfach gestrickte Siegfried in Hagen einen Freund sieht. Hagen bringt aber Siegfried um, aus Habgier.
Dieses menschliche Desaster ist so wirkungsvoll vertont, dass die wenig später folgende Musik „Siegfrieds Trauermarsch“ den Atem raubt. In der vierten Wagneroper in Folge war ich so beglückt wie zermürbt: glücklich wegen dieser Musik, die mich durchdringt wie sonst nichts auf der Welt. Seelisch zerfranst vom allgemeinen Gehuste, diesem aufmerksamkeitsheischenden, wichtigtuerischen Geräusper, besonders in den intimsten und anrührendsten Augenblicken. Während Siegfrieds Trauermarsch jedoch schwieg der prustende Pöbel. Wer diese überirdische Musik nicht kennt: bitte einmal hören, auch wenn es gerade Frühstück gibt.
Wer hustet, hat kein Herz
Konzerthusten ist Absicht, das ist erwiesen.1 Schließlich hustet im Orchestergraben auch niemand während der ganzen Oper.
Ich bin der Meinung: Husten ist Haltung. Ganz sicher: wenn es um Leben und Tod ginge, du würdest nicht husten – es sei denn, du bist krank. Dann hast du aber auch in der Oper nichts verloren. Tut mir leid, Freunde. Autoritäre Wochen im Sonntagskind!
Geräusche auf Amöbenlevel
Wie können sich diese röchelnden Rotznasen wichtiger nehmen als die Musik? Sie beräuspern Werke, die seit Jahrhunderten die Menschen entflammen, aus der Fassung bringen, in Ohnmacht fallen lassen. Sie kommentieren Kunst für die Ewigkeit auf die niedrigste Weise, mit ihren erbärmlichen Privatgeräuschen. Singende Göttinnen werden von hustenden Hornochsen angekeucht.
Der Pianist Keith Jarrett hat irgendwann begonnen, sein Publikum darüber zu informieren, dass er sein Konzert sofort abbricht, wenn jemand hustet. Ich bewundere Keith!
Werben für das Wunder
Wäre ich Opernintendant, ich würde mit den Leuten vor einer Aufführung sprechen. Liebe- und respektvoll natürlich, kein Wort von Hornochsen und Rotznasen:
„Verehrtes Publikum,
heute Abend werden mehrere hundert höchst befähigte Fachkräfte auf, unter und hinter der Bühne versuchen, ein Wunder zu erzeugen. Für Sie! Diese Leute werden alles geben, damit Sie vergessen, hier auf unbequemen Stühlen zu sitzen. Sie werden ihr ganzes Können dafür aufbringen, Sie im Innersten aufzuwühlen. Sie sind entschlossen, eine Show zu liefern, die Ihnen eine vollkommene Alternative zur persönlichen Realität bietet – in den nächsten paar Stunden.
Gönnen Sie sich selbst das erfüllende Erlebnis, Teil der Musik, Teil des Dramas zu werden. Denn auch in Ihnen wohnen eine Brünnhilde, ein Siegfried und eine Handvoll lusttrunkener Rheintöchter. Womöglich verstecken Sie auch einen kaltblütigen Hagen in sich oder einen mutlosen Gunther. Heute Abend dürfen Sie diese inneren Figuren freilassen – das tut sehr gut, fragen Sie mal Ihre Therapeutin.
Dieser Zauber funktioniert allerdings nur, wenn Sie alle mitmachen. Sie brauchen Mut. Mut, wie ihn Liebende aufbringen, wenn sie einander entdecken, im Rausch des Begehrens, im Wahn der Wolllust. Liebende vergessen ihre Grenzen und öffnen ihren Horizont. Nur wenn Sie das auch wagen, haben Sie heute die Chance auf eine lebensverändernde Erfahrung. Sind Sie nicht deswegen hier?
Wenn Sie ein Telephon dabeihaben, verabschieden Sie es jetzt. Weil ich weiß, dass Anweisungen bei rebellisch gesinnten Individualisten wie Ihnen zum Gegenteil führen, schlage ich jetzt ein gemeinsames chorisches Abhusten vor, als reinigendes Ritual zur Vorbereitung der Stille, die den Klang gebiert. Bitte stehen Sie auf und benutzen Ihre Stimmbänder. Räuspern Sie sich, husten Sie, was Sie können, schnauben und grunzen Sie. Danke! Was Musik kann, vermag sonst nichts auf der Welt. Wollen wir das gemeinsam feiern?
Vorhang auf!”
Wo’s heilig ist, verweil’ ich
Ich glaube, das würde helfen. Ich weiß, ich bin streng. Aber es muss Räume geben, die erhaben sind. In denen wir anders miteinander umgehen als in U-Bahn, Kneipe und im Straßenverkehr. Ich finde es richtig, dass die Religion keine Macht mehr über die meisten von uns hat, aber fehlen uns nicht die Tempel?
Ich wünsche Euch einen herrlichen Sonntag!
Euer Mark <3
P.S. Es muss an Corona liegen, das Virus bremst den Geist: keine neu erfunden Wörter im 147. Sonntagskind. Nächste Woche wieder!
Ich gehe davon aus, dass du diese Kolumne am Frühstückstisch liest, ausgedruckt auf einem schweren, champagnerfarbenem Luxuspapier. Wenn nicht: wirf einen Blick auf den Cartoon von Stephan Pastis, den ich gerade auf der Facebookseite von Ali N. Askin entdeckt habe:
Wer findet, dass es mit einer Umfrage nicht getan ist und dass es im Sonntagskind dieser Tage auch mal um Fußball gehen könnte, sei auf zwei dieses Themenfeld liebevoll umkosende Kolumnen hingewiesen:
Elvis und der Fußballirrtum
Als ich 6 Jahre alt war, hatte meine Mutter ein Verhältnis mit einem Automatenaufsteller. Der leerte nicht nur die Münzfächer der Groschengräber in Eckkneipen, er füllte auch die Jukeboxes mit Singles auf – in einer Zeit, als es in Kneipen nur Musik gab, wenn jemand eine Mark in den Schlitz warf. (Das Spotify der Boomer-Eltern). Die abgespielten Schallp…
Pfingsten und der Mob
Verehrte Lesende des SONNTAGSKIND. Der Untertitel dieser Serie heißt „Freundliche Betrachtungen einer untergehenden Welt.“ Heute wollte ich die Apokalypse an der Tagesschau ausrichten. So sollte der Text beginnen: „Samstagabend vor Pfingsten, 20 Uhr. Das große Thema der Tagesschau: Bayern München ist Deutscher Meister. Die ersten acht Minuten von Deutsch…
Hast du aber nicht genug vom Operngeschäft, dann lies diesen Text über den ersten Abend des Rings:
Prachtmangel allerorten
Letzte Reihe, Mitte. Hätte ich doch nur nicht so gegeizt, als ich das Ringpaket in der Deutschen Oper Berlin gekauft habe – vier Opern in einer Woche, unterste Preiskategorie. Geiz ist die niedrigste Form des Prachtmangels. Geiz ist Angst. Angst ist nicht geil
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Auch wunderbar ist Dein Kommentar:
In diesem Blogartikel steht alles.
Räusperer und Huster sind eventuell Anhänger ganz moderner Musik, die jenseits der 12-Ton-Klassiker nach neuen Strukturen suchen........., Jedoch die Idee vor Beginn einer musikalischen Darbietung , ein kollektives "Rauslassen " plus Atemübung zu zelebrieren, finde ich sehr vernünftig .
Aber ist es bei Konzerten und Husten nicht wie beim Lachen im Schulunterricht? Gerade wenn man’s nicht soll, überkommt es einen am stärksten (und lässt sich dann kaum bändigen). Ich erinnere mich an meine Konzertbesuche: Weil ich nicht zu den Räusperern gehören wollte, konzentrierte ich mich so sehr aufs Nicht-Husten, dass mir die Tränen in die Augen stiegen ... Immerhin tat das der Musik keinen Abbruch.