Damen und Herren, verehrte Freundinnen und Freunde,
ich bin überwältigt von der regen Teilnahme an der großen Sonntagskind-Marketing-Umfrage, die Ergebnisse helfen mir sehr – wer noch will, die Umfrage bleibt noch ein bisschen offen. Jede Stimme bringt Licht ins Dunkel – danke!
Nun viel Freude mit der 199. Sonntagskind-Kolumne ❤️
Leinen los! Ich wohne nicht mehr, ich bin jetzt an Bord. Seit meinem 57. Geburtstag bin ich offiziell Kapitän meines eigenen Lebens: Mein neues Zuhause liegt im Wasser – ich habe mir ein Hausboot gekauft.
Auf einer der Terrassen meines 35. Wohnsitzes frage ich mich, ob es eigentlich veganes Labskaus gibt. Hier, wo sanfter Wellengang der nahen Ostsee unter den Rümpfen meiner schwimmenden Villa plätschert, wo man nicht „Was geht?“ fragt, sondern „Wo geididat?“ – und „Löppt!“ antwortet, solange der Sensemann noch nicht neben einem her läuft, wollen die Gedanken spazieren gehen.
Mich berührt der Tod des Theaterregisseurs Claus Peymann, im Berliner Ensemble verbrachte ich einige Jahre. Ohne zu wissen, wie es um ihn stand, schrieb ich im letzten Sonntagskind über sein besonderes System der Ansprache.
Feuilleton-Fehden und Beleidigungsbarock
Nach meinen Jahren bei der Regie-Legende am Schiffbauerdamm hatte ich einmal den Auftrag, neue Musik zu einer berühmten Barockoper zu komponieren. Ich fand das sehr anspruchsvoll, weil es diese Oper ja schon seit Jahrhunderten gab. Bislang hatte sich niemand beschwert, sie sei nicht lang genug. Trotzdem: Die Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen.
Irgendwie fand ich einen Weg und streute Songs und Orchestermusiken ein, die natürlich ganz anders klangen als Händel. Mit dem Dirigenten, einem Experten für die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, musste ich am Ende schmerzhafte Machtkämpfe austragen.
Ohne dass ich es bemerkt hatte, fühlte er sich von mir herausgefordert und begann, meine Neukompositionen zu boykottieren. In den Endproben waren die Fronten schon so verhärtet, dass kein Gespräch mehr möglich war. Stattdessen eskalierte ein Einigungsversuch in fäkalvulgären Beleidigungen des gekränkten Maestros, in seiner Muttersprache.
Händel, Hysterie und Hohn
„Endproben“ ist eine magische Vokabel bei uns Theaterleuten. Sie bedeutet: Ausnahmezustand. In Endproben sind alle Umgangsregeln außer Kraft gesetzt. Wer Endproben hat, ist vermindert schuldfähig. In Ohnmacht fallen, Morddrohungen, Selbstmorddrohungen, sexualisierte Gewalt bei gleichzeitigem Nervenzusammenbruch – das ist Endprobenstandard. In Endproben prüfen wir unsere epische DNA: Die Dramen hinter den Kulissen müssen krasser sein als Medea, Woyzeck und Macbeth, sonst wackelt das Selbstbild des zum Vortrag befugten Bühnenkünstlers. Da ist das gezischte „Vafanculo!“ eines Barockmusikspezialisten eine Petitesse – Endproben halt!
Orkangebrüll im Orchestergraben
Der Taktstockträger mit Tourette las meine Partitur. Dann war er sicher, eine bestimmte Passage daraus künstlerisch nicht verantworten zu können – und weigerte sich, diese mit dem Orchester zu proben. Die Regisseurin war darüber ebenso empört wie ich, aber als Hauptverantwortliche rechnete sie sich aus, dass es wahrscheinlicher wäre, ich ließe mir diese Erniedrigung gefallen, als dass der Dirigent umzustimmen wäre. Der war noch divenhafter als ich und wäre womöglich abgereist. Ich als kompromissbereiter People-Pleaser trug kein Ausfallrisiko in mir – so kam der cholerische Klein-Karajan mit seiner Nummer durch – ich schwor mir, dass mir so etwas nicht noch einmal passiert.
Für die Dauer der Produktion trug ich einen Zentner Beton im Bauch – ich konnte nach der Premiere nicht einfach abhauen, weil ich in dieser Inszenierung auch als Conferencier für gute Stimmung zu sorgen hatte, indem ich in satirischen Versen die Handlung zusammenfasste. Ich werde den Satz des Intendanten nicht vergessen, der mir im Vertrauen sagte, im Theater bekäme halt immer derjenige Recht, der am Lautesten schreit.
Rüpelrumba in der Egodisco
Geschrei kannte ich schon von Herrn Peymann, auch vom Tanztheaterteufel Hans Kresnik, bei dem ich zu Beginn meiner Theaterwege in den Proben saß und Tonbänder zurechtschnitt. Der pflegte zur Mittagszeit schon einen derart enthemmenden Schwips zu haben, dass er sich nur noch über gebölkte Erniedrigungen mitzuteilen wusste. Auch meine letzte Erfahrung als Schauspielkomponist war von Geschrei begleitet. Die Regisseurin erklärte, ihr Gebrüll sei niemals beleidigend gemeint, sondern Ausdruck ihrer tiefen Empfindung1. Aber schmeckt versalzenes Essen besser, nur weil die Köchin verliebt ist?
Wer schreit, muss leider kielholen
Mit dieser letzten Bühnenmusik habe ich meine Karriere als Theaterkomponist beendet. Die von sich selbst besessenen Riesenegos verstehen sich nicht mit meiner frei fließenden Gestaltungslust. (Wenn man sie fragt, erzählen sie es wahrscheinlich genau umgekehrt.)
Merksatz:
Ein Egoist ist jemand, der mehr an sich denkt als an dich.
Den dröhnenden Fürsten der Theaterwelt habe ich Adieu gesagt. Und wenn jemand meint, Kunst müsse wehtun oder entstehe nur unter Druck, dann lade ich ein: auf einen alkoholfreien Negroni auf meiner Bugterrasse. Bei Sonnenuntergang, im Takt der Wellen, ganz ohne Geschrei, den passenden Song dafür habe ich auch schon.
I. Lautstärke ersetzt keinen Gedanken – weder auf der Bühne noch im Leben.
II. Nicht jedes Drama verdient ein Publikum.
III. Wer dir wehtut und es „Leidenschaft“ nennt, ist kein Genie – sondern schlecht erzogen. Meide diese Leute.
Auch, wenn man hier als Bühnenkünstler in bester kultureller Gesellschaft2 ist: Das Stettiner Haff ist mir auf Dauer ein bisschen zu weit weg. Mit meinem Hausboot von knapp 15 mal 5 Meter Länge sehne ich mich nach einem Berliner Gewässer. Wenn jemand auf seinem Seegrundstück noch einen Steg mit Stromanschluss zu vermieten hat, auch für begrenzte Zeit – ich freue mich über jeden Hinweis.
Wer schreibt, bleibt. Auch im Logbuch meines Hausbootes:
Wenn Ihnen diese Kolumne gefallen hat, dann werfen Sie mir doch eine Münze in die Bordkasse. Dann muss ich nicht wieder im Theater arbeiten. ⚓
Ach, noch etwas: Die Summe der Likes genannten angeklickten Herzen entscheidet über meine Sichtbarkeit hier auf Substack. Machst Du mir die Freude? Wer liebt, der liked – danke!
Kleine, angeberische Impression meines 35. Zuhauses:
Dass hier auch noch ein Kaminofen eingebaut wurde, ist natürlich etwas kitschig:
Dieser Apothekerschrank ist meine Rettung: 32 beschriftete Schubladen, das erste Mal herrscht Ordnung in meinem Leben. Der Schrank hat schon seine eigene Kolumne bekommen.
Wer mehr darüber wissen will: Ich habe unter dem Eindruck dieser, meiner letzten Theaterproduktion als Komponist, ein paar Eindrücke aus den Proben zusammengefasst, ab dem dritten Absatz geht es ums Theater:
Heino ist ein Phänomen. Zu Ostern hat er mich sprachlos gemacht, mit seinem neuen Song. Ab dem 4. Absatz dieser Kolumne geht es um den blonden Barden und sein Werk:
Ein Volk, ein Reich, ein Hase
Tennisbunny Boris Becker war sich ganz sicher: Hitler täuschte seinen Suizid im Führerbunker nur vor, in Wirklichkeit versteckte er sich in Südamerika – so heißt es in einem Tweet, den BB auf der Wissensaustauschplattform X teilte. Ein paar schlaue Hasen zweifelten am Verstand des Sportgenies und gaben ihm argumentativ ein paar
Ich bin neidisch auf dein Hausboot - sieht super aus! Hier in Lübeck gibt‘s viel Wasser und idyllische Plätze, aber leider nur temporär und nicht zum Wohnen! 🥲
Vielleicht gibts Platz in Potsdam, dann sähen wir uns mal wieder. Amüsiert deine Kolumne gelesen und dein erfüllter Hausboot Traum animiert mich, auch meine Träume zu verwirklichen - unsere Zeit ist jetzt! 💕